Berliner Zeitung
Datum: 06.01.1997
Autor: Nina Freydag
Eine jüdische Mama aus Fernost
Inna Slavskaja singt bei der jiddischen Musikwoche im Hackeschen
Hof-Theater
Aufrecht thront Inna Slavskaja in dem weichen Fernsehsessel ihrer Neuköllner
Mietwohnung. Eine zierliche Frau um die Vierzig, der das Deutsch in runden,
russischen Tönen von der Zunge rollt. Schwer lastet eine dicke Brille auf
der kleinen Nase. Ihr neunjähriger Sohn ist vom Turmspringen zurückgekommen
und fühlt sich krank. Die Mutter sorgt sich auf russisch."Ein gefährlicher
Sport, aber er hat ihn selbst gewählt", sagt sie dann, zuckt mit den Schultern
und zieht ein Gesicht: Was-will-man-machen! Ich-habe-es-aufgegeben.
"A jidishe Mame", eine jüdische Mama, sei sie nun mal: immer da für
das Kind, immer besorgt.
Auf dem Cover ihrer CD sieht man eine ganz andere Inna. Hellrot leuchtet
es von ihren Lippen, hellrot umschmeichelt ein Schal ihr ebenmäßiges Gesicht.
Ihre hellgrünen Augen blicken herausfordernd. Sie singt: "A jidishe Mame,
sie macht die ganze Welt so süß Durch Wasser, durch Feuer würde sie gehen
für ihr Kind Sie nicht zu ehren, ist die größte Sünde."Präzise, schnörkellose
Kanten singt sie, füllt die alten jiddischen Lieder mit einer klaren, gradlinigen
Kraft. Sie schäkert, sie klagt, sie läßt die Musik in unbezähmter Kampfeslust
erstrahlen.
In den 70er und 80er Jahren war Inna Slavskaja die einzige in der Sowjetunion,
die als Solistin mit jiddischen Liedern auftrat.
Es stand schlecht um die jüdische Kultur."Unsere Leute hatten Angst.
Erst nach der Perestroika haben sich jiddische Künstler ans Licht gewagt",
erzählt sie.
Warum sie trotzdem immer jiddische Musik gesungen hat?"Ich habe nie
etwas anderes gewollt."Mehr sagt sie dazu nicht.
Aufgewachsen ist sie im Fernen Osten, im äußersten Zipfel der Sowjetunion.
An der Grenze zu China, dort, wo der Bergfluß Biro und das Bächlein Bidschan
zusammenfließen, wurde 1934 die Autonome Jüdische Sowjetregion Birobidschan
gegründet. Die russischen Juden sollten von Handel und Handwerk ablassen
und Bauern werden, ehrenhafte Sowjetbürger."Das Palästina des fernen Ostens"
nannte die staatliche Propaganda den Landstrich von der Größe Belgiens:
Moor und Wald, im Sommer von Regenstürmen, Insektenschwärmen und glühender
Hitze überzogen, im Winter eiskalt. Nur wenige Kosaken und Asiaten wohnten
dort.
Die ersten jüdischen Umsiedler lebten zusammengezwängt in ungeheizten
Baracken und hungerten, denn der Staat hatte die versprochene Hilfe nicht
gesandt.
Von den knapp zwanzigtausend Menschen, die in kommunistischer Begeisterung
ostwärts zogen, reiste gut die Hälfte gleich wieder ab. Langsam aber gründeten
sich Kolchosen und Fabriken, und in der Stadt wuchsen die typisch sowjetischen
Wohnblock-Schluchten.
Innas Vater kommt Anfang der 40er Jahre nach Birobidschan, um als Journalist
zu arbeiten.Er ist ein ukrainischer Jude und überzeugter Kommunist.
Daß Stalin 1937 viele Birobidschaner Funktionäre ins Gefängnis werfen
und hinrichten läßt, daß ab 1947 gezielt jüdische Künstler und Intellektuelle
beseitigt werden, daß die jüdischen Schulen, Gemeindehäuser und Zeitungen
1937 vorübergehend und 1947 endgültig geschlossen werden - nichts scheint
dem Glauben des Vaters etwas angehabt zu haben."Wir haben nie ein Wort
gegen die Partei von ihm gehört, aber er war ein guter Mann", sagt die
Tochter.
Die kleine Inna bemerkt den staatlichen Antisemitismus nicht.
Heute sagt sie: "Die Erwachsenen haben nicht darüber gesprochen. Alle
wußten, daß der bekannte jüdische Schauspieler Solomon Mikhoels, der intellektuelle
Führer der russischen Juden, 1948 von Stalins Leuten ermordet wurde, aber
man konnte es nicht laut sagen. Das Jüdische hat in meiner Kindheit kaum
eine Rolle gespielt. Wir sind ganz ohne Religion aufgewachsen. Auf dem
Tisch standen zwar unsere Spezialitäten, aber sie waren nicht so koscher,
wie es sein sollte."Die jiddischen Lieder jedoch begleiteten den fernöstlichen
Alltag."Meine Mutter hat zu Hause immerzu gesungen", erzählt Inna."Sie
war voll Kraft für die Kinder, hat nie vor uns geweint. Wir haben nie erfahren,
wie das Leben für sie war."A jidishe Mame.
Die Tochter studiert Musik, tritt ab Ende der 70er Jahre mit jiddischen
Liedern auf. Ihre kommunistische Harmoniewelt bekommt Sprünge."Die Veranstalter
hatten Angst, mich einzuladen. In jedem der Konzerte wimmelte es von Miliz
und KGB."Seit der Perestroika wandern die russischen Juden in Heerscharen
aus der GUS aus.
In Birobidschan leben heute nur noch etwa 4 000.Fast alle haben Ausreiseanträge
nach Israel gestellt.
Inna Slavskaja würde ihre fernöstliche Heimat gern noch einmal wiedersehen,
aber es ist eigentlich schon zu spät."Alle meine Freunde sind längst ausgewandert."Sie
selbst zog bereits 1982 nach Kiew, floh 1991 mit ihrer Familie wegen des
Tschernobyler Atomunglücks nach Berlin.
Noch immer trinkt sie Medikamente gegen ihre Schilddrüsen-Fehlfunktion.
Ihr Mann starb vor einem Jahr an einem Herzinfarkt."Er war so gesund
und jung", sagt sie. Seit seinem Tod hält sie sich als Musikpädagogin über
Wasser.
Nur vom Singen kann sie in Berlin nicht leben.
Die CD, die sie ihrem Mann gewidmet hat, heißt trotzdem "Mazel" - "Glück".
Am kommenden Freitag (21 Uhr) gibt Inna Slavskaja im Hackeschen
Hof-Theater als Teil der jiddischen Musikwoche eines ihrer seltenen
Konzerte.
Nina Freydag
Jiddische Musikwoche im Hackeschen Hof-Theater, 6. bis 13.Januar.
Mit Die grine Kuzine, Karsten Troyke, Jossif Goffenberg, Aufwind, Jalda
Rebling.