Die Musikgruppe "Aufwind" rekonstruiert jüdisches Liedgut
Schon eine ganze
Weile steht der jüdische Straßenjunge an der Ecke und bietet
Zigaretten feil. Ach, bitte, kauft meine "Papirossn", bettelt er: Ich bin
eine arme Waise und werde von der Parkbank, auf der ich schlafe, Nacht
für Nacht vertrieben . . . Dieses traditionelle Lied, dessen Text
von Hermann Jablokoff stammt, gehört zum Repertoire von "Aufwind".
Seit 15 Jahren widmet sich die Berliner Gruppe vor allem dem Kulturgut
der osteuropäischen Juden. Stärker als andere, die Klezmermusik
verswingen oder mit dem Schlagzeug spielen, bleibt "Aufwind" bei einer
eher volkstümlichen Variante. Mit Gitarren, Geige, Klarinette, Kontrabaß,
Mandoline und Bandoneon werden die jiddisch-sprachigen Lieder begleitet,
manche auch a capella gesungen.
Die Tatsache, daß keines der fünf Bandmitglieder aus einer
jüdischen Familie stammt, scheint das eher jugendliche "Aufwind"-Publikum
nicht zu stören. "Für die Zuschauer ist weniger wichtig, wo man
herkommt", glaubt Hardy Reich. "Entscheidend ist, wie die Musik interpretiert
wird." Und da gibt es bei Klezmer scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten.
Um ihr Programm zu vervollkommnen, recherchieren die Bandmitglieder
in Archiven und Bibliotheken und fahren schon mal nach New York oder in
die Ukraine. Dort finden sie interessante Liederbücher und Zeitzeugen,
die Melodien originalgetreu vorsingen können. Aus der Schwarz-Meer-Stadt
Odessa brachten sie zum Beispiel das Lied mit, das der letzten CD "Awek
di junge jorn" ihren Titel gegeben hat. Es stellt die Frage, wie wir das
Leben nutzen. Die jungen Jahre sind unwiederbringlich verflogen.
Und nun? Andere Songs berichten vom Ghetto in Vilnius, von einer unglücklichen
Liebe oder von Auswanderern, die in den USA ihr Glück suchten. Sie
wurden vom Volk überliefert oder stammen aus der Feder jiddischer
Autoren wie Scholem Alejchem, Itzik Manger oder Mordechaj Gebirtig.
In ihren eigenen jungen Jahren hatten sich die Bandmitgliedern auch
der deutschen "Folk"-Musik verschrieben. Erst nach einer kurzen Anlaufphase
entschieden sie, ausschließlich Klezmer zu spielen. Die Annäherung
an diese Musik gestaltete sich im Ost-Berlin der späten Achtziger
nicht einfach. Liederbücher lagen vergraben und manchmal falsch katalogisiert
in einigen wenigen Bibliotheken, deren Mitarbeiter mit der fremden Sprache
oft nichts anzufangen wußten. Der Unterstützung des Schriftstellers
und Übersetzers Jürgen Rennert verdankt die Gruppe die ersten
intensiven Kontakte nach Osteuropa. In Warschau und Bukarest sahen sich
die Musiker an, was vom ehemals florierenden jüdischen Leben übrig
geblieben war. In der rumänischen Hauptstadt besuchten sie das Jiddische
Staatstheater, sprachen mit den Künstlern und nahmen Ideen mit nach
Hause. Im Selbststudium und mit Hilfe von Kassetten lernten sie den eigentümlichen
Singsang der jiddischen Sprache, lasen Zeitungen wie das "Sowjetisch Hejmland"
aus Vilnius und die "Folksstime" aus Warschau. Dort fanden sie auch Porträts
von Klassikern der jiddischen Literatur - Informationen, die sie für
Konzerte nutzten.
Nach der Wende trat "Aufwind" nicht nur in Berlin und bei der alljährlichen
Sommer-Tournee an der Ostseeküste auf, sondern auch in New York und
bei einem Klezmer-Festival im israelischen Safed. Die Tatsache, daß
junge Deutsche diese Musik lieben, stieß dort sowohl auf Sympathie,
als auch auf Ablehnung. Andreas Rohde berichtet von einer Begegnung mit
einem amerikanischen Juden in Jerusalem. Der Mann verlangte sein Geld zurück,
nachdem er das Herkunftsland der Straßenmusiker erfahren hatte, denen
er gerade ein paar Münzen gespendet hatte. In Berlin, das auch dank
der russisch-jüdischen Einwanderer jetzt ein so reichhaltiges Kulturleben
hat, ist die "Aufwind"-Musik nicht mehr derart exotisch wie zu DDR-Zeiten,
sondern ein Angebot unter vielen. Im Hackeschen Hoftheater spielt die Gruppe
jedenfalls regelmäßig vor vollem Haus.
JOSEFINE JANERT
© 1999 Verlag DER TAGESSPIEGEL
© 1998-99 AUFWIND
- Andreas Rohde
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